Die traditionelle Bedeutung eines spirituellen Schülers
Die am stärksten engagierte Art eines spirituellen Suchenden stellt der Schüler eines spirituellen Mentors dar.
Es folgen Begriffsklärung und Untersuchung der Worte , mit denen im Sanskrit und Tibetischen Schüler bezeichnet werden.
Die wichtigsten Sanskritbegriffe für einen buddhistischen Schüler sind shaiksha, shishya, vaineya und bhajana. Ein shaiksha ist jemand, der sich für shiksha, das Training durch einen spirituellen Mentor, anbietet. Das bedeutet insbesondere, dass er oder sie sich in den drei Arten „höheren Trainings“ übt: in der ethischen Selbstdisziplin, der Konzentration auf konstruktive Objekte und im unterscheidenden Gewahrsein der Wirklichkeit.
Sich in ethischer Selbstdisziplin zu üben, bedeutet zu lernen, nicht länger destruktiv zu handeln, zu sprechen und zu denken. Das Training beinhaltet darüber hinaus, sich in konstruktivem Verhalten und positivem Denken und Empfinden zu üben. Das Wort „konstruktiv“ bedeutet, ein Verhalten und Denken einzuüben, das frei ist von störenden Emotionen oder Geisteshaltungen wie etwa Gier, Anhaftung, Feindseligkeit oder Naivität. Es beinhaltet weiterhin ein Vertrauen in den Nutzen positiven Verhaltens und das Bewahren eines Gefühls für Werte, das sich aus dem Respekt für positive Qualitäten im allgemeinen ergibt, wie auch aus dem Respekt für die Menschen, die diese positiven Qualitäten besitzen. In diesem Sinne üben sich die Schüler in Methoden der Selbstentwicklung, etwa der Meditation, innerhalb eines heilsamen ethischen Rahmens.
Der Begriff shishya leitet sich von derselben Wurzel wie das Wort shasana her und verweist auf die Verwirklichungen des Buddha. Durch die Art und Weise wie der Buddha war und durch sein gesprochenes Wort, das später in der Form von Sutras aufgezeichnet wurde, wies der Buddha auf seine Erleuchtung hin und lehrte Methoden, wie die Erleuchtung zu erlangen sei. Entsprechend erlernen Schüler die drei Arten höheren Trainings durch einen spirituellen Mentor, indem sie seinen Charakter und sein Verhalten beobachten und indem sie seinen Erklärungen der schriftlichen Lehren zuhören. Auf diese Weise verbinden die Schüler theoretisches Wissen und Erfahrung, um eine konstruktive Veränderung ihrer Persönlichkeit und ihres Verhaltens herbeizuführen.
Vaineya bezeichnet jemanden, der sich im vinaya übt, den Methoden der „Zähmung“. Durch das Vinaya-Training erlangen die Schüler ethische Selbstdisziplin, indem sie die buddhistischen Gelübde der Laien oder Ordinierten einhalten. Indem sie formell Gelübde ablegen, um ihre widerspenstigen Verhaltensmuster zu zähmen und sich konstruktiver zu verhalten und zu denken, beweisen die Schüler einen tiefen Grad der Verpflichtung für den Prozess der Selbstentwicklung.
Bhajana bedeutet Behälter oder Gefäß. Die Schüler dienen als Gefäß für den Erhalt und die Bewahrung der Dharma-Lehren. Im Besonderen dienen sie als Behälter für die drei Arten höheren Trainings und die Laien-Gelübden oder monastischen Gelübde. Um geeignete Gefäße sein zu können, müssen die Schüler einen bestimmten Grad an Reife erlangt haben, bevor sie eine Beziehung zu einem Mentor aufbauen. Sie müssen einen offenen Geist besitzen, um Training und Gelübde empfangen zu können, sie benötigen geistige Stabilität, um die Kontinuität des Trainings und des Einhaltens der Gelübde aufrechterhalten zu können. Und ferner müssen sie von starken psychologischen Problemen frei sein, um das Training und die Gelübde in einer reinen Form aufrechterhalten zu können.
Der Begriff chela – im Allgemeinen gebraucht für einen Hindu-Schüler, der sein Heim verlässt, um mit einem Sadhu (einem heimatlosen spirituell Praktizierenden) zu leben und zu studieren – bezeichnet jemanden, der sich in den Lumpen eines asketischen Yogis kleidet. In der tibetischen Übersetzung repa (tib. ras-pa) ist jedoch die Bedeutung „Schüler“ verloren gegangen. Stattdessen wurde das Wort zu einer Bezeichnung für einen tantrischen Yogi, der sich in den kargen Lumpen eines indischen Asketen kleidet. Ein Bespiel dafür ist Mila-Repa.
Die Tibeter übersetzten sowohl shaiksha als auch shishya als lobma (tib. slob-ma), vaineya als dülja (tib. gdul-bya) und bhajana als nö (tib. snod). Die tibetischen Begriffe enthalten zumeist dieselben Nuancen wie die entsprechenden Sanskritworte, fügen aber in bestimmten Fällen noch mehr Verständnisebenen hinzu. So verweist zum Beispiel die Silbe ma in lobma – wie auch in lama – auf Weisheit, ein anderes Wort für unterscheidendes Gewahrsein. Die Schüler üben sich darin, selbst unterscheiden zu können, was konstruktiv und was destruktiv ist, was Fantasie ist und was Realität ist. Nö findet sich häufig mit chü (tib. bcud) gepaart und bezeichnet die verfeinerte Essenz von etwas. Die Schüler dienen als geeignete Gefäße für das Empfangen und Bewahren eben der verfeinerten Essenz, die ein spiritueller Mentor geben kann – den erleuchtenden Methoden zum Erlangen der Buddhaschaft.
Kurz, wenn es sich bei spirituellen Mentoren um konstruktive Personen handelt, die andere darin anleiten, sich konstruktiv zu verhalten und konstruktiv zu denken, damit sie die Erleuchtung erlangen können, dann werden diejenigen als Schüler bezeichnet, die durch Training in konstruktivem Verhalten und Denken von solchen Mentoren zur Erleuchtung geführt werden.
Was es bedeutet, getrug eines Lehrers zu sein
Getrug (tib. dge-phrug), ein weiterer tibetischer Begriff für Schüler, bestätigt die vorhergehenden Erklärungen. Ge bedeutet konstruktiv und trug bezeichnet ein Kind. Ein getrug ist ein Kind, das vom spirituellen Mentor aufgezogen wird und lernt, sich konstruktiv zu verhalten – und zwar zunächst auf der Ebene des Pfades als ein zunehmend ausgeglichener, ethischer und positiver Mensch, und schließlich auf der Ebene des Ergebnisses als ein Buddha. Kind bezieht sich nicht unbedingt auf das Alter des Schülers, sondern meint einen Minderjährigen in Bezug auf den spirituellen Pfad.
Zusätzlich zu seiner etymologischen Bedeutung hat der Begriff getrug auch noch eine andere Assoziation. Er kann sich auch auf jemanden beziehen, der von Kindesbeinen an im Haus des Lehrers lebt und auch wirtschaftlich zum Haushalt gehört. Getrugs sind oft jüngere Verwandte. Die beiden Bedeutungen des Wortes getrug überschneiden sich nicht unbedingt. Es ist möglich, dass spirituelle Schüler wirtschaftlich nicht zum Haushalt ihres Mentors gehören, und umgekehrt kann es sein, dass die Personen, die zum Haushalt gehören, wie zum Beispiel der Koch, so gut wie kein formales spirituelles Training erhalten.
Wann man beginnt, ein Schüler zu werden
Um richtig verstehen zu können, was es im buddhistischen Kontext bedeutet, ein Schüler zu sein, muss man wissen, auf welcher Stufe des spirituellen Pfades es überhaupt angebracht ist, möglicherweise ein Schüler zu werden. Obwohl die klassischen Texte darin übereinstimmen, dass auf jeder Stufe des Pfades ein Lehrer notwendig ist, beginnen spirituelle Suchende ihre Reise doch lange, bevor sie Schüler eines qualifizierten Mentors werden. Dieser Punkt hat viel Verwirrung hervorgebracht, weil Kadam-Meister, wie etwa Sangwejin, die Schüler-Lehrer-Beziehung zur „Wurzel des Pfades“ erklärten und das Thema zu Beginn ihrer Texte über den Stufenweg (tib. lam-rim) behandelten. Tsongkhapa und alle späteren Gelug-Meister folgten dann ihrem Beispiel. Die Stellung dieses Themas im Gerüst ihrer Texte bedeutet jedoch nicht, dass Suchende als ersten Schritt auf ihrem spirituellen Pfad eine Lehrer-Schüler-Beziehung eingehen müssten.
Die Platzierung der Lehrer-Schüler-Beziehung deutet nicht ihre zeitliche Position auf dem Pfad hin. Sie deutet lediglich auf die essenzielle Rolle dieser Beziehung als eine stabile Grundlage für die Entwicklung der Stufen spiritueller Motivation in ihrer vollständigsten Form hin.
Die Suchenden müssen das Leiden in ihrem Leben erkennen und eingestehen, und darüber hinaus den Wunsch entwickeln, das Leiden zu überwinden, bevor sie eine Beziehung zu einem spirituellen Mentor aufbauen können. Mit anderen Worten, sie brauchen zumindest eine rudimentäre Stufe von „Entsagung“. Zusätzlich benötigen sie Kenntnisse der Lehren Buddhas darüber, was zu üben und was aufzugeben ist, um das Leiden, das sie zu überwinden trachten, auch tatsächlich reduzieren und beseitigen zu können. Erst dann sind die Suchenden in der Lage, eine ernsthafte Beziehung zu einem spirituellen Lehrer aufzubauen, der ihnen dabei hilft, ihre Ziele zu erreichen.
Spirituelle Mentoren sind jedoch Lehrer, die ihren Schülern dabei helfen, die Erleuchtung zu erlangen. Daher müssen die Suchenden, bevor sie eine Beziehung zu einem solchen Mentor eingehen können, zumindest über ein Anfangsinteresse verfügen, zum Wohle aller Wesen die Buddhaschaft erlangen zu wollen.
Um der tatsächlichen Abfolge der spirituellen Entwicklung gerecht zu werden, wurde das Thema der vorbereitenden Übungen noch vor die Behandlung der Lehrer-Schüler-Beziehung. Die vorbereitenden Übungen beinhalten, dass man eine sichere Ausrichtung einschlägt und die eigene Bodhichitta-Motivation verstärkt. Auf diese Weise betrachtet, ist das Verständnis des Stufenweges also das Einschlagen einer sicheren Ausrichtung und die Entwicklung von Bodhichitta, und erst dann die Entwicklung einer gesunde Lehrer-Schüler-Beziehung.
Die spirituelle Lehrer-Schüler-Beziehung (vs Klient und Therapeut)
Nehmen wir an, ein Mensch möchte für den Rest seines Lebens emotionales Glück und gute zwischenmenschliche Beziehungen erreichen. Wird dieser Mensch, um dieses Ziel zu erreichen, nun Schüler eines spirituellen Mentors, dann würde das in vielerlei Hinsicht einer Beziehung zwischen Klient und Therapeut ähneln. Beide Beziehungen beruhen auf dem Wunsch, das Leiden im eigenen Leben zu erkennen und zu lindern. Beide Beziehungen beinhalten die Zusammenarbeit mit einem anderen Menschen, um die eigenen Probleme und ihre Ursachen zu erkennen und zu verstehen. Viele Therapieformen stimmen tatsächlich mit dem Buddhismus darin überein, dass Verständnis der Schlüssel zur Selbst-Transformation ist.
Zudem gibt es sowohl im Buddhismus als auch in den therapeutischen Systemen Denkmodelle, die das tiefe Verstehen der Ursachen der Probleme betonen. Beide Ansätze besitzen auch Traditionen, die zur Überwindung dieser Faktoren die Arbeit mit pragmatischen Methoden befürworten, und Systeme, die eine ausgeglichene Kombination beider Ansätze empfehlen. Zusätzlich sehen sowohl der Buddhismus als auch viele Therapieformen im Aufbau einer gesunden emotionalen Beziehung zu dem Mentor oder dem Therapeuten einen wesentlichen Teil des Prozesses der Selbstentwicklung. Und obwohl die meisten klassischen Therapieformen davor zurückschrecken, das Verhalten des Klienten oder seine Art zu denken im Sinne ethischer Richtlinien zu beeinflussen, befürworten doch einige postklassische Therapieschulen ethische Richtlinien, die denen des Buddhismus erstaunlich ähnlich sind. Derartige Richtlinien betonen, dass man sich gleichermaßen fair gegenüber allen Mitgliedern einer dysfunktionalen Familie verhält und dass man destruktive Impulse wie Zorn und dergleichen nicht ausagiert.
Ungeachtet dieser offensichtlichen Übereinstimmungen gibt es signifikante Unterschiede zwischen einer spirituellen Lehrer-Schüler-Beziehung und der Beziehung zwischen Klient und Therapeut.
Der Aufbau einer Lehrer-Schüler-Beziehung für spirituelle Schüler ist nicht der erste Schritt auf dem spirituellen Pfad. Sie haben schon viel früher damit begonnen, sich mit den Lehren des Buddha zu befassen und an sich selbst zu arbeiten. Als Ergebnis haben sie ein ausreichendes Maß an emotionaler Reife und Stabilität erlangt, so dass die Lehrer-Schüler-Beziehung, die sie nun aufbauen, im buddhistischen Sinne des Wortes konstruktiv wirken kann. Mit anderen Worten, buddhistische Schüler müssen bereits relativ frei von neurotischen Einstellungen und entsprechendem Verhalten sein.
Spirituelle Schüler teilen persönliche Probleme gewöhnlich nicht mit ihrem Lehrer und ebenso wenig erwarten oder fordern sie gar individuelle Aufmerksamkeit. Selbst wenn sie ihren Mentor um persönlichen Rat bitten, so doch keinesfalls regelmäßig. Im Mittelpunkt der Beziehung steht das Hören der Lehren. Buddhistische Schüler lernen von ihren Mentoren in erster Linie Methoden zur Überwindung allgemeiner Probleme, mit denen alle Menschen konfrontiert sind. Dann übernehmen sie selbst die persönliche Verantwortung dafür, diese Methoden auf ihre spezifische Situation anzuwenden.
Wenn man mit der Absicht auf einen buddhistischen spirituellen Mentor zugeht, das emotionale Wohlergehen im jetzigen Leben zu erhöhen, könnte man vielleicht auch erwarten, dass die eigenen Probleme abnehmen. Abgesehen davon, dass das Leben ohnehin schwierig ist – wie es die erste Tatsache des Lebens (die erste edle Wahrheit) besagt, die der Buddha lehrte – könnte man das Leben vielleicht auch weniger schwierig gestalten.
Wie schon früher gesagt, kann es für den Eintritt in den klassischen buddhistischen Pfad nur eine vorläufige Motivation sein, das eigene Leben emotional weniger schwierig gestalten zu wollen. Die Schüler spiritueller Mentoren wären zumindest auf die längerfristigen Ziele hin ausgerichtet, dass heißt auf das Erreichen einer günstigen Wiedergeburt, das Erreichen der Befreiung und das Erlangen der Erleuchtung. Außerdem würden buddhistische Schüler über ein intellektuelles Verständnis der Wiedergeburt nach buddhistischer Sicht verfügen und ihrer Existenz zumindest vorläufig annehmen.
Der Grad von Verpflichtung zur Selbst-Transformation impliziert für Buddhistische Schüler, ob sie nun für die Unterweisung zahlen oder nicht, die Richtungsänderung ihres Lebens. Indem sie eine sichere Ausrichtung einschlagen, verpflichten sich die Schüler dem Weg der Selbstentwicklung zu folgen, den die Buddhas bis um Ende beschritten und dann gelehrt haben, und dem die hoch verwirklichte spirituelle Gemeinschaft zu folgen sucht.
Darüber hinaus verpflichten buddhistische Schüler sich zu einer ethischen, konstruktiven Art des Handelns, Redens und Denkens im Leben. Sie versuchen, soweit es nur möglich ist, destruktive Verhaltensmuster zu vermeiden und sich stattdessen in konstruktiven zu üben. Wenn Schüler aufrichtig Befreiung von den wiederkehrenden Problemen unkontrollierter Wiedergeburt wünschen, gehen sie sogar eine noch striktere Verpflichtung ein, indem sie formell die Laien- bzw. Mönchs- oder Nonnengelübde für die individuelle Befreiung (Skt. pratimoksha Gelübde) nehmen. Schüler auf dieser Stufe der Selbstentwicklung geloben, lebenslang ununterbrochen bestimmte Verhaltensarten zu unterlassen, die entweder von Natur aus destruktiv sind oder von denen der Buddha bestimmten Menschen aus speziellen Gründen abgeraten hat. Ein Beispiel für letztere Verpflichtung ist das Versprechen Ordinierter, ihre Laienkleidung abzulegen und stattdessen Roben zu tragen, um ihre Anhaftung zu vermindern. Selbst Schüler, die danach streben, entweder ungünstige Wiedergeburten zu vermeiden oder die emotionalen Schwierigkeiten im gegenwärtigen Leben oder für zukünftige Generationen zu verringern, können auf jeder dieser drei Motivationsebenen die Befreiungsgelübde nehmen, bevor sie die vorgeschriebene Motivation entwickelt haben.
Spirituelle Schüler sehen in ihrem Mentor ein lebendiges Beispiel für das, was sie selbst erreichen wollen. Ihre Sicht gründet sich darauf, die guten Qualitäten des Lehrers korrekt zu erkennen. Sie behalten diese Sichtweise bei und verstärken diese Sichtweise auf allen Stufen ihres Pfades zur Erleuchtung. Klienten andererseits mögen in ihrem Therapeuten ein Vorbild für emotionale Gesundheit sehen, dafür ist es jedoch nicht notwendig, dass sie die guten Qualitäten des Therapeuten richtig erkennen. Es ist nicht Ziel der Beziehung, so zu werden wie der Therapeut.
Auszüge aus/Quelle: Study Buddhism by Berzin Archives
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